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Corona-Dialoge, Teil 1: Über einen ehrenwerten Leon Goretzka und cleveren Tom Brady

Die Sportwelt steht weitestgehend still. Wir sind zu Hause und blicken wehmütig zurück und hoffnungsvoll nach vorne.

Heut zu Gast beim virtuellen Kamingespräch: Maurice Hauß.
Maurice ist als Autor beim größten deutschen FC Bayern-Blog MiaSanRot tätig. Neben dem Rekordmeister verfolgt er die amerikanische Sportwelt aufmerksam. Egal ob Golf, Darts oder Radfahren – ihm ist keine Sportart zu langweilig oder ausgefallen, um sich damit zu beschäftigen.

Maurice und ich unterhielten uns über Schach, Re-Lives und die NFL, die einzige “große” Liga mit nennenswertem Tagesgeschäft.

Jetzt auch noch Schach?

Maurice: Hallo Georg! Kein Live-Sport mehr und jetzt wurde in Russland auch noch das Kandidatenturnier für die Schach-WM unterbrochen. Wie stillst du momentan deinen Drang nach Sport?

Georg: Servus Maurice! Ich muss gestehen, die Schach-Absage ging an mir vorbei. LOL. Live-Sport fehlt mir noch gar nicht so sehr. Die Corona-Berichterstattung überkompensiert mein Verlangen nach Livetickern. Davon abgesehen stürze ich mich in zwei Sport-Themen: NFL-Saisonvorbereitung rund um Free Agency und Draft zum einen, und In-Depth-Analysen von Fußballdaten zum anderen. Wie sieht es bei dir aus?

Maurice: Ouh, da hast du aber was verpasst. Sieht wohl nach einem Überraschungsgegner für Carlsen nächstes Jahr aus. 😉 

Aber ich muss auch sagen, dass ich den Sport weniger vermisse als ich das zuerst gedacht hatte. Und sowohl die öffentlichen Programme als auch diverse Internetmedien versuchen ja über Re-Lives einen an die schönen Momente zu erinnern. Habe tatsächlich am Wochenende mal bei Wembley 2013 und Deutschland-Italien reingeschaut. Wie häufig schaust du denn Spiele in der Wiederholung nochmal an?

Georg: Die Frage ist, für mich als Schach-Laien: Hat dieser Überraschungsgegner eine realistische Chance, oder ist Carlsen weiterhin unbesiegbar? 

Bei den Re-Lives verhält es sich bei mir bisher paradox. Ich war super happy, als ich die Ankündigungen vernahm. Aber bis auf eine Zusammenfassung des Champions-League-Finals 2001 habe ich mir tatsächlich noch nichts angeschaut. Wahrscheinlich bleibt es auch dabei. Ich war allerdings auch noch nie ein Freund von Sportarten generell im Re-Live. Sport schauen, das lebt für mich auch immer maßgeblich von der Spannung. Re-Live mache ich wenn, dann nur zu Analysezwecken.

Maurice: Puh, das übersteigt dann tatsächlich meine Expertise. Aber nach allem, was ich gelesen habe, würde zumindest der Franzose Maxime Vachier-Lagrave mit ausgewieften Varianten ihn zum Schwitzen bringen können.

Bei Wiederholungen geht es mir übrigens ganz ähnlich. Ich habe bei Deutschland gegen Italien auch erst zum Elfmeterschießen eingeschaltet. Neuer! Hector! Dennoch großartig…

Ein Blick in die USA

Maurice: Ein anderer interessanter Artikel, den ich gelesen habe war beim amerikanischen Multimedia-Outlet The Ringer. Dort ging es um 40 klassische Sportereignisse der Geschichte mit diversen Events vom Pferderennen über 4x100m-Schwimmen bis zu Linsanity. Hast du spontan einen denkwürdigen Moment der Sporthistorie für die Leser?

Georg: Ich habe mir gerade diesen Ringer-Artikel angeschaut, wirklich sehr interessant. “Secretariat Wins Belmont by 31 Lengths” habe ich mir sofort anschaut. Auch ansonsten, Reggie Miller, Super Bowl XLIX, die Liste ist großartig! Ganz generell dürfte es wohl so sein, dass die lohnenswerten Re-Lives die bekannten Klassiker sind. Sie sind es ja gerade deshalb. Das Fußball-Bundesliga-Meisterschaftsfinale 2001 steht noch ziemlich weit vorne auf meiner To-Watch-List.

Aber genug von der Vergangenheit, lass uns zum aktuellen Sportgeschehen übergehen. Womit beschäftigst du dich? Szenarien für die weitere Fußballsaison? NFL? Grundsätzliche Gedanken zur “Fußballblase”? Werden die Vereine überleben?

Maurice: Finale 2001 ist natürlich ein absoluter Klassiker, da gibt es auch auf YouTube einen tollen Zusammenschnitt der Konferenz von den letzten beiden Spieltagen. Wahnsinn, was damals alles zusammenkommen musste, damit das am Ende zum Meistertitel reichte …

NFL ist natürlich spannend. Als großer Patriots-Fan habe ich natürlich die ein oder andere Träne verdrückt, als Tom Terrific seinen Abschied bekannt gegeben hat. Und dann verpflichten wir nicht mal einen der letztjährigen starting QBs, die auf dem Markt sind, sondern holen wieder Hoyer zurück? Natürlich will ich nicht die Expertise von Bill Belichick bei der Beurteilung des Talents von Stidham anzweifeln, aber ich hätte – wie auch Mike Lombardi in seinem empfehlenswerten Podcast – einen Flyer auf z. B. Winston bevorzugt. Glaubst du die NFL ist bereit für einen neuen AFC-East-Champion? Und wie weit kommt Brady mit den Bucs?

Georg: Gesegnet sei die NFL-Free-Agency. Diskussionen über aktuelle Spielerwechsel und mehr. Ich bin weder Patriots- noch Brady-Fan und kann mich daher entspannt zurücklehnen und sagen: Ich finde den Wechsel gut. Endlich mal Belichick ohne Brady und Tom ohne Bill. Vor allem aus Bradys Sicht ein cleverer Wechsel. In Tampa Bay steht ihm mit Evans und Godwin das wahrscheinlich beste Receiver-Duo der Liga zur Verfügung, garniert mit einem Quarterback-freundlichen Spielsystem. Ich rechne mit einer bärenstarken Saison von ihm. Insgesamt waren die Bucs meinem Eindruck nach letzte Saison schon besser als es der Blick auf die Tabelle sagt. 

Was bedeutet das für die Patriots und die AFC-East? Sehr spannend, ich glaube es ist noch zu früh, um das zu beurteilen. Auf Twitter gingen erste Ideen rum, die Pats könnten “for Trevor (Lawrence) tanken”. Man stelle sich vor, auf 20 Jahre Brady-Dominanz würde mit Lawrence die nächste Dynastie folgen. Für eine Prognose in der Division ist es deshalb vor dem Draft noch zu früh. Was machen die Dolphins? Vielleicht wären sie ein Landing Spot für Winston? Ich kann auch nicht verstehen, dass er noch kein Team gefunden hat.

Maurice: Clever durchaus, aber es wird viel davon abhängen, wie sehr Bruce Arians sein Konzept auf Brady anpassen wird und ob der 42-Jährige noch den Arm hat, um eine Mannschaft eine weitere Saison zu tragen. Letztes Jahr hat er schon merklich abgebaut, aber natürlich wünsche ich ihm nur das Beste und hoffe, dass er es in Florida weit bringt. Ein Super-Bowl-Tom vs. Bill wäre natürlich ein besonderes Schmankerl. Wenn auch gleichzeitig sehr unrealistisch.

Rivers zu den Colts, Teddy nach Carolina, Gurley zu Atlanta, Diggs zu den Bills – welcher Wechsel hat dich bisher am meisten überzeugt oder wird deiner Einschätzung nach nicht hoch genug gewertet?

Für mich ist es Campbell zu den Ravens. Ein Win-Now-Move, das dem Team von Harbourgh einen benötigten Difference-Maker in der D-Line gibt. Letztes Jahr war Baltimore mit 37 Sacks nur im unteren Drittel der Liga. Campbell ist nur ein, zwei Jahre von seiner Bestform mit 14,5 Sacks und 20 Tackles For Loss entfernt.

Georg: Super Bowl LV mit Tom vs. Bill, und dann auch noch in Tampa Bay, das wäre zu viel Disney, und das kann ich mir auch nicht vorstellen. Für Bradys Legende wird das aber auch nicht nötig sein. Ich sehe Parallelen zum Wechsel von Joe Montana zu den Chiefs vor 27 Jahren. Joe Cool führte die Chiefs zu einigen spektakulären Siegen und erstmals nach einer Durststrecke von über 20 Jahren zu einem Divisiontitel. Ähnliches würde Brady bereits reichen, um seinen Status als GOAT zu verfestigen. 

Rivers zu den Colts, dazu Buckner für einen 1st-Rounder, die Zeichen in Indianapolis stehen klar auf “Win now”. Bei Carolina sehe ich noch nicht genau, wo der Weg hinführt. Zunächst hatte ich mit einem größeren Rebuild gerechnet, Teddy passt nicht so recht rein. Gurley ist ein weiterer Beweis für die Running-Backs-Dont-Matter-Theorie. Nicht mal dieser Über-Runningback konnte sein Gehalt rechtfertigen, sondern wurde von den Rams gecuttet. Ich bin gespannt, was er noch im Tank hat. Der krasseste Trade war für mich Hopkins nach Arizona. Für mich vollkommen überraschend. Und ich glaube, er hebt Arizona direkt auf ein neues Level, mit etwas Glück sind die Playoffs drin. 

Campbell, genau, für die aktuellen Ravens wahrscheinlich ein guter Griff, auch wenn der Zahn der Zeit langsam an ihm nagt.

Wer sind deine Gewinner und Verlierer der Free Agency?

Maurice: Ja, der Hopkins-Johnson-Trade hat dem ein oder anderen Houston-Fan nicht nur die Sorgenfalten auf die Stirn getrieben. Bill O’Brien ist in der texanischen Metropole wohl bald so beliebt wie die Golden State Warriors …

Bei den Gewinnern sind für mich auch die Indianapolis Colts ganz vorne dabei, auch wegen den Rostermoves bei den Texans. Als Verlierer sehe ich die Los Angeles Rams, die einige Schlüsselspieler verloren haben. Gerade in der Defensive mussten sie da viel abgeben. Wohl die späte Rechnung für die “big moves” der Vergangenheit. 

Zurück zum Fußball

Maurice: Doch genug NFL an dieser Stelle. Blicken wir zurück auf den Fußball. Nehmen wir mal an der Ball rollt diese Saison noch einmal. Wie wird so eine Pause die Leistungen auf dem Feld beeinflussen?

Georg: Das ist eine gute Frage, die bisher in der Öffentlichkeit noch etwas unterschätzt wird. Außenstehend kann man nur ahnen, zu welchen mannschaftsinternen Dynamiken die Corona-Krise führt. Vielleicht zu mehr Zusammenhalt? Vielleicht aber auch zu einer Distanzierung zwischen einzelnen Spielern und dem Verein, je nachdem wie Gespräche über einen Gehaltsverzicht laufen. 

Rein sportlich gesehen ist es eine riesige Herausforderung für die Trainer. Wie können sie die Spannung hochhalten? Es ist ja damit zu rechnen, dass die Zwangspause noch etwas länger dauern wird. Letztlich wahrscheinlich sogar länger als eine normale Sommerpause. Nach einer Sommerpause haben die Trainer wochenlang Zeit für eine intensive Vorbereitung, um die Spieler pünktlich zum 1. Spieltag bei 100 % zu haben. Ich glaube nicht, dass sie nach Corona die gleiche Zeit bekommen werden. Gleichzeitig ist mit nonstop englischen Wochen zu rechnen. Brutal. Wie siehst du die Situation?

Maurice: Ich sehe das auch als riesige Herausforderung für die Vereine. An einen normalen Trainingsablauf ist ja momentan kaum zu denken. Und während der Fußball heute natürlich zu professionell ist, als dass ein Spieler à la Ailton mit Übergewicht aus der Pause kommt, so bin ich dennoch gespannt, wie die Teams zurückkommen. Gerade an gruppentaktischen Abläufen kann gerade nicht gearbeitet werden. Besonders für Trainer mit einem fixen Spielkonzept, die individuelle Schwächen der Spieler kompensieren müssen, ist das natürlich ein Nachteil.

Für mich auch noch ein großes Rätsel, wie man die ausgefallenen Spiele überhaupt nachholen will. Allerdings lohnt sich hier die Spekulation nicht, da kaum absehbar ist, wie lange der aktuelle Zustand noch anhält und wann wieder an Sport zu denken ist.

Eine tolle Sache fand ich jedoch auf jeden Fall den Zusammenhalt, den der Fußball an diversen Stellen gezeigt hat. Seien es die 20 Millionen der Champions-League-Teilnehmer zur Unterstützung von Zweitligisten, die Einkaufsaktionen diverser Teams oder auch die Spendenseite von Kimmich und Goretzka. 

Hoeneß hatte ja beispielsweise von einer “neuen Fußballwelt” im kicker gesprochen. Wird sich der Fußball deiner Meinung nach in Folge der Corona-Krise ändern? Was muss sich ändern?

Georg: Aktionen wie “We kick Corona“, initiiert von Kimmich und Goretzka, finde ich ebenfalls uneingeschränkt lobenswert. 

Die Konsequenzen für die Fußballwelt insgesamt sind für mich noch nicht absehbar. Zu viel wird davon abhängen wann und in welcher Form wieder gespielt werden kann, wie groß also die Einnahmeverluste sein werden. Einige Vereine könnten in eine beträchtliche Schieflage geraten, andere überstehen die Krise vielleicht fast unbeschadet. Das aktuelle Gleichgewicht dürfte sich erheblich verschieben, aber zu wessen Gunsten, das weiß ich noch nicht. 

Ganz konkret rechne ich damit, dass die Vereine einige Zukunftsprojekte verschieben, um Geld zu sparen: Hier wird das Nachwuchsleistungszentrum vielleicht erst später gebaut, da der Stadionausbau verschoben und dort die Data-Analytics-Abteilung vorerst doch nicht aufgebaut. 

Letzte Frage des Abends: Nicht wer, sondern wann wird es einen Deutscher Meister 2020 geben?

Maurice: Ich sage mal so, ich hoffe, dass es einen Deutschen Meister geben wird und die DFL nicht den Weg der DEL gehen muss. Bei bet-at-home ist die Quote auf Fortführung der Saison vor dem 1. Juni bei 2,70. Wenn ich dem alten Motto “Vegas always knows best” folge, würde ich also mit Ende Juli/Anfang August rechnen. Aber auch klar ist, dass die Gesundheit der Spieler und der gesunde Menschenverstand an erster Stelle stehen sollten. Der Fußball ist halt am Ende doch “nur” die schönste Nebensache der Welt. 

Vielen Dank an Maurice und Georg für einen Sonntagabend, der unterhaltsamer als der Tatort war.

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