Brot und Spiele? Bundesligastart als Opium fürs Volk? Folgt man dem öffentlichen Stimmungsbild, scheint die Rechnung noch nicht aufzugehen, zumindest nicht vorab. Die Kritik am Geisterspiele-Plan der DFL ist groß.
Im Wesentlichen betrifft die Kritik zwei Aspekte: zum einen die Geisterspiele selbst und die Abwägungen, die mit der Austragung verbunden sind. Oft kommt aber noch ein zweiter, grundsätzlicher Aspekt zum Tragen: Fußball sei überkommerzialisiert, habe das Rad überdreht. Und sei doch irgendwo auch selbst schuld, wenn jetzt der finanzielle Druck so groß ist, dass es ohne Geisterspiele nicht gehe.
Die Diskussion über die Geisterspiele erachte ich als notwendig und angemessen. An vielen Stellen gibt es kluge Abwägungen dazu. Die Grundsatzdiskussion über die Kommerzialisierung wird dagegen oft recht naiv geführt.
Aus diesem Anlass folgt hier eine kleine Artikelserie zum Fußball in der Corona-Krise. Den ersten Teil widmete ich einigen der Vorwürfen und Vorurteilen, die gegenüber der Kommerzialisierung im Profifußball herrschen.
In diesem zweiten Teil folgt eine Einschätzung zu den geplanten Geisterspiele, bevor ich mir im dritten Teil Gedanken zur “Zukunft des Fußballs” mache.
Die Bundesliga hat das Recht auf Geisterspiele
Deutschland hat den Lockdown in weiten Teilen beendet. Friseure haben geöffnet, Möbelhäuser haben geöffnet, in Fabriken werden wieder Autos gebaut, die Innenstädte sind voll von Menschen. Dabei geht es längst nicht mehr um systemrelevante Branchen.
Nur die Bundesliga soll es nicht dürfen?
Kein Testmangel
Vor 4-6 Wochen vielleicht noch ein plausibles Argument, so gibt es Mitte Mai keinen Testmangel mehr. “Gleichzeitig wachsen auch die Test-Kapazitäten, die weiterhin nicht ansatzweise ausgeschöpft werden“, berichtet die Tagessschau.
Kein epidemiologisches Risiko
Einzelne Fußballer und Funktionäre wurden bereits positiv getestet. Wir wünschen ihnen einen möglichst harmlosen Verlauf und gute Besserung.
Aus gesamtgesellschaftlicher Sicht besteht jedoch nur ein vernachlässigbar kleines Risiko, dass sich Geisterspiele zu Superspreadern entwickeln. Es dürfte kaum Situationen geben, in denen die anwesenden Personen besser getestet und besser nachverfolgbar sein dürften.
Kein Eigenverschulden
Ich schrieb es bereits im ersten Teil: Die Bundesliga ist nicht selbst verschuldet in die Krise geraten. Ohnehin wäre es ein sehr zynisches Argument, jemanden die Chance zur Selbsthilfe (nicht: staatliche Hilfe!) zu verwehren, nur weil er in der Vergangenheit schlecht gewirtschaftet hätte. Was die Bundesliga wie geschrieben nicht mal hat.
Keine Sonderrolle
Die Bundesliga beansprucht keine Sonderrolle für sich. Es wäre umgekehrt eine Sonderbehandlung, ausgerechnet der Bundesliga ihre Berufsausübung zu verbieten. Die deutsche Basketballliga plant ihr Saisonfinale. Andere europäische Profiligen planen die Wiederaufnahme des Spielbetriebs und wie eingangs erwähnt: Ganz Deutschland lockert, nicht selten auch durch gerichtliche Beschlüsse erwirkt oder bestärkt.
So what?
Also Anpfiff und los geht’s`? Ganz so einfach ist es nicht. Aus dem Recht auf Geisterspiele folgt kein Automatismus. Ein wichtiger Unterschied in der Bewertung der Geisterspiele, der meines Erachtens zu selten gemacht wird. Es gibt eine Reihe guter Gründe, die gegen Geisterspiele sprechen.
Kontra Geisterspiele
Gesundheit der Spieler
DFL-Konzept hin, sinkende Corona-Neuansteckungen in Deutschland her, natürlich werden die Spieler durch Training, Kasernierung und Spiele einem Risiko ausgesetzt, sich mit dem Coronavirus zu infizieren. Auch wenn oft vergessen wird, dass die Spieler auch bei einem Saisonabbruch einem solchen Risiko ausgesetzt sind. Bei einigen Spielern dürfte das Risiko, sich unbedarft in der Freizeit zu infizieren sogar höher sein.
Es überrascht, dass es neben Subotic oder Verstraete kaum kritische Stimmen der Spieler gibt. Andererseits ist die monetäre Fallhöhe für die Profis enorm hoch. Ohne Geisterspiele jetzt oder spätestens im August wäre die Kürzung der Gehälter auf das Niveau von Kurzarbeitergeld über kurz oder lang unvermeidlich.
Aber kompensieren die Millionen wirklich für die möglichen Langzeitschäden? Das muss jeder Spieler für sich selbst beantworten. Ich habe jedenfalls Verständnis für alle Spieler, die mit “Zerrungen” ausfallen.
Außen- und Imagewirkung
Ob sie will oder nicht, die Bundesliga hat eine Vorbildfunktion für Kinder, Jugendliche und Amateursportler, die auch wieder spielen wollen, denen aber die finanziellen und organisatorischen Möglichkeiten für Spiele unter Quarantäne fehlen.
Gleichzeitig lebt die Liga selbst von einem positiven Image. Ohne positives Image weniger Fans, weniger Fernsehzuschauer, weniger Werbeeinnahmen. Es droht ein Teufelskreis.
In einer Umfrage von Tobias Escher, Fußballjournalist und -analyst, waren nur 20% der Umfrageteilnehmer der Meinung, dass der Re-Start der Liga richtig ist.
Andere Umfragen zeigen abweichende Ergebnisse. Und die Einschätzung kann sich ändern, wenn die Spiele glatt laufen. Die Bewertung könnte aber auch nochmals negativer werden, wenn es zu ernsten Vorfällen und Erkrankungen kommt.
Drohende Wettbewerbsverzerrung
Ein ganz wesentliches Problem an der Wiederansetzung ist eine drohende Wettbewerbsverzerrung. Dabei rede ich nicht von unterschiedlichen Kadergrößen – that’s a feature not a bug – oder regional unterschiedlichen Auflagen für den Trainingsbetrieb. Der FC Bayern wird immer bessere Trainingsmöglichkeiten als Auftaktgegner Union Berlin haben.
Es gibt aber in der aktuellen Situation explizite Anreize für einige Teams, mit ihrem Verhalten wahlweise einen Abbruch zu erzwingen oder auf Teufel komm raus zu vermeiden. Letzteres muss nicht institutionell geplant sein, und es braucht keine verschwörerische Verschleierung positiver Tests. Die Einflussmöglichkeiten sind viel subtiler:
- Um keine positiven Testergebnisse zu erhalten, reicht es bereits, Tests nur halbherzig durchzuführen. Professor Drosten und Co. haben es oft genug erklärt: Der Rachen- oder Nasenabstrich ist schmerzhaft und nicht zu verwechseln mit einem einfachem Speichelabstrich. Wer den Test nicht ordnungsgemäß durchführt, der kann False Negative getestet werden.
- Umgekehrt gibt es auch Teams, die von Quarantäne, Spielabsagen und letztendlich einem Saisonabbruch profitieren könnten. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass jemand so weit gehen würde, um Spieler absichtlich zu infizieren. Das braucht es aber auch nicht, wie das Beispiel aus Dresden gezeigt hat.
- Entgegen des DFL-Konzeptes wurde ganz Dynamo Dresden in Quarantäne gesteckt. Dresden ist Tabellenletzter der 2. Liga. Zufall oder hat man dem Vorschlag des örtlichen Gesundheitsamtes gerne zugestimmt?
- Der FC Carl Zeiss Jena ist gar von einem kompletten Trainingsverbot betroffen. Tabellenplatz? You guessed it. Platz 20 von 20 in der 3. Liga und 16 (sic!) Punkte Rückstand auf einen Nichtabstiegsplatz.
Man kann es den Teams auch nicht verdenken. Wer wie Jena nichts mehr gewinnen kann, warum sollte der sich einem Risiko aussetzen wollen?
Je nach Verlauf der ersten Geisterspiele werden sich weitere Optionen für Moral Hazards zeigen. Ökonomiestudenten aufgepasst! Die Geisterspiele könnten ein Thema für eure Bachelor-Arbeiten bieten.
Pro Geisterspiele
Worauf warten?
Am 16.5. starten die Geisterspiele. Am 16.5. meldet das Robert-Koch-Institut 620 Neuinfizierte Covid-19-Fälle in Deutschland. Das ist wenig, sehr wenig.
Wenn man gleichzeitig davon ausgeht, dass es uns nicht gelingen wird, das Virus auszurotten bevor ein Impfstoff zur Verfügung steht, dann dürfte sich die Zahl der Neuinfizierten noch lange in dem Bereich einpendeln. (Sofern es nicht wieder schlimmer wird.)
Es spräche also wenig dafür, dass die Situation im Juni, Juli oder August besser wäre. Eine hundertprozentige Sicherheit wird es vielleicht erst im Sommer 2021 geben.
Recht auf Ausüben des Berufs
Wenn Seifert und Co. argumentieren, dass “der Fußball” in Gefahr ist, dann stimmt das natürlich nicht.
Fußball wird immer gespielt werden, Fußball wird immer Fans haben. Fußball braucht keinen DFB, keine DFL und keine ausgegliederte VfB Stuttgart 1893 AG.
Aber ohne eine Fortsetzung des Spielbetriebs vor Sommer 2021 sind Bundesliga, DFL und viele der Vereine in Gefahr, das ist nicht zu leugnen. Und es ist legitim, dass diese Menschen nicht einfach auf ihre Jobs verzichten oder ihre Arbeitgeber in die Insolvenz schicken wollen.
Neben den direkt im Fußballbetrieb angestellten Menschen gibt es eine Vielzahl von Anrainern, die ebenfalls vom laufenden Fußballbetrieb abhängig sind. Auch dahinter verbergen sich Menschen und Schicksale. Auf einen steuerhinterziehenden Profi kommen wahrscheinlich 100 Leute, die man mag oder denen man zumindest nicht aktiv die Arbeitslosigkeit wünscht: Blogger, Podcaster, Journalisten, Fanshopverkäufer, Tippspielbetreiber.
Sportlicher Abschluss bzw. bessere Argumente für Entscheidungen am Grünen Tisch
Geisterspiele bieten die Chance auf einen sportlichen Abschluss der Saison. Zwar ein Abschluss unter erschwerten Bedingungen, aber immerhin ein Abschluss und die Chance, die Saison ohne Entscheidungen am Grünen Tisch zu beenden.
Eine Annullierung der Saison würde nicht nur die fehlenden Spiele wegnehmen, sondern letztlich die bereits gespielten 26 Spiele nichtig machen.
- Die finanziell riskante Strategie von Union Berlin, die aufzugehen schien: nichtig
- Die sportlich mutige Strategie von Paderborn, die einen wahrscheinlichen Abstieg zur Folge haben würde: nichtig
- Kölns Trainerwechsel und Einkäufe in der Winterpause: nichtig
Es fühlt sich nicht richtig an, die bisherigen Leistungen zu voiden.
Niemand will Entscheidungen über Auf- und Abstiege am Grünen Tisch. Selbst wenn man kulante Lösungen erreicht: Wo zieht man die Grenze? Es kann keine für alle fairen und verständnisvollen Lösungen geben. Wenn bei einem vorzeitigen Abbruch zwei Teams in die Bundesliga aufstiegen, ist das fair für den HSV auf Platz 3? Ist es fair für Heidenheim auf Platz 4?
Ist es fair für Leverkusen auf Platz 5 abzuschließen, obwohl sie so nah am Champions-League-Platz waren? Platz 5 bedeutet Europaliga. Europaliga bedeutet, dass Kai Havertz nicht zu halten sein wird.
Bewertung und Prognose
Bewertung: Krise-Dilemma-Kompromiss als Referenzrahmen
Für eine Bewertung der Entscheidung der Bundesliga, den Spielbetrieb wiederaufzunehmen, sollte man sich klar machen, dass man diese Option nicht einfach mit dem “old normal” vergleichen kann.
Ein solcher Vergleich führt nahezu zwangsläufig zu einer eindeutigen Bewertung: Nee, Geisterspiele, nein danke!
Das ist meiner Meinung nach aber der falsche Ansatz: Auch wenn man in einigen deutschen Innenstädten nicht mehr viel davon sieht: Wir sind inmitten einer KRISE, für die niemand etwas kann. Die Krise führt tagtäglich zu DILEMMAS: Wir müssen aus mehreren Übeln das kleinere auswählen. Jede Entscheidung ist mit Nachteilen verbunden.
Es gibt keine 1A-Lösungen. Es gibt jetzt nur zweit-, dritt- oder viertbeste Lösungen. Es geht nur darum, von all den schlechten Wegen den am wenigsten schlechten zu wählen. Wir müssen akzeptieren, dass aktuell KOMPROMISSE gefordert sind.
Ich bin für die Geisterspiele
Vor diesem Hintergrund und unter Abwägung der verschiedenen Argumente bin ich für die Durchführung der Geisterspiele.
Es ist ein überaus ambitionierter Plan und eine Gleichung mit vielen Unbekannten, so dass ein vorzeitiger Abbruch keine große Überraschung wäre. Eine erneute Unterbrechung wäre aus meiner Sicht dabei kein Grund für Schadenfreude.