Corona-Pause und die ganze Fußballwelt steht (noch) still. Die ganze Fußballwelt? Nein, ein Verein im Süden der Republik arbeitet munter weiter, als wäre die Pandemie bald vorbei: Zunächst wurden die Verträge von Trainer Hansi Flick und dem bayerischen Posterboy Thomas Müller verlängert, nun schickt sich Hasan Salihamidžić an, das stillstehende internationale Transferkarussell zu befeuern (Salihamidzic kündigt Bayern-Transferoffensive an: “Wollen internationalen Star”).
Ob die erneute Ankündigung nach den Erfahrungen der leeren Versprechen von Salihamidžić und Uli Hoeneß (“wenn Sie wüssten…”) notwendig war? Belassen wir es bei der Frage.
Welche Transfervolumina für den FC Bayern während beziehungsweise nach Corona darstellbar sind? Das wissen die Controller in München. Ob der Ball vor 2021 überhaupt wieder rollt, das wissen sie in München nicht, spekulieren aber anscheinend darauf und planen am Kader der Zukunft.
Konkret werden immer wieder drei deutsche Nationalspieler mit einem Wechsel zum FC Bayern in Verbindung gebracht: Leipzigs Timo Werner, Manchesters Leroy Sané und Leverkusens Kai Havertz. Folgend vergleiche und bewerte ich diese drei Optionen.
Kader des FC Bayern 2020/21: Wo sind Baustellen?
Die FIFA hat die Tür für besondere Vertragskonstellationen geöffnet, insofern sind Prognosen noch schwieriger als gemeinhin, dennoch gehe ich für mein Planspiel von folgenden Kaderbewegungen aus: Coutinho wird den Verein verlassen, Perišić wird bleiben. Weitere Zu- oder Abgänge in der Offensive plane ich bisher noch nicht ein.
Hansi Flick hatte sich nach einigen Experimenten von 4-3-3 über eine Dreierkette zuletzt auf ein 4-2-3-1 festgelegt.
In der Viererabwehrkette sind Davies und Pavard als Außenverteidiger gesetzt und auch 2020/21 noch im Kader. Für die Innenverteidigung stehen Boateng, Alaba, Hernandez, Süle und Martínez zur Verfügung. Odriozola dürfte den Verein verlassen.
Vor der Viererabwehrkette scheint Flick auf eine spielstarke Doppelsechs aus Kimmich und Thiago zu setzen. Davor müllert Müller als hängende Spitze/unkonventioneller Zehner und, sofern fit, dribbeln Gnabry und Coman auf den Flügeln. Im Sturmzentrum führt weiterhin kein Weg an Lewandowski vorbei.
An offensiven Alternativen stehen hinter der ersten Elf auch 2020/21 Perišić (Flügel), Goretzka, Tolisso, Cuisance (alle zentrales Mittelfeld) und der junge Zirkzee (Mittelstürmer) zur Verfügung.
Was auffällt:
- Das Lewy-Back-up-Dilemma ist seit Jahren unverändert: Gleichwertiger Ersatz ist unmöglich. Entweder setzt man auf einen erfahrenen Teilzeitstürmer (Wagner), auf ein Talent (Zirkzee) oder auf positionsfremde Backups (Müller).
- Für zwei zu besetzende Positionen auf den offensiven Flügen stehen neben dem Stammpersonal nur Perišić sowie Talente wie Batista Meier oder Notlösungen wie Müller und Tolisso zur Verfügung. Das ist zu wenig. Zumal Coman und Gnabry verletzungsanfällig sind. Bei Coman muss man auch die Frage stellen, ob er es in die Weltspitze packt, oder ob er von seinen Verletzungen einmal zu oft zurückgeworfen wurde.
- Im zentralen Mittelfeld ist der Kader offensiv wie defensiv weiterhin am tiefsten besetzt. Hinter Müller, Kimmich und Thiago warten Goretzka, Cuisance, Tolisso, theoretisch Martinez und Leih-Rückkehrer Fein auf ihre Chance. Das ist selbst dann sehr tief, wenn Tolisso noch wechseln würde. Nach Coutinhos Abgang wird jemand fehlen, der die Rolle des klassischen Zehners besetzt, denn sowohl Müller als auch Goretzka interpretieren die Position unkonventionell. Allerdings gibt es im modernen Fußball immer weniger Trainer, die diese Rolle besetzten.
- Defensiv ist der Kader stark besetzt. Ein neuer Außenverteidiger-Backup wäre wünschenswert, ein Innenverteidiger ist nur nötig, wenn jemand noch den Verein verlässt.
Neben einem Außenverteidiger für die Tiefe braucht der FC Bayern also primär einen Flügelstürmer mit Weltklassepotential, der sich mit Gnabry und Coman um die beiden freien Plätze streitet beziehungsweise die Spielanteile aufteilt.
Havertz, Werner und Sané im Kurzprofil
Leroy Sané: Kommt der Dribbler im zweiten Anlauf?
Leroy Sané erholt sich aktuell von einem Kreuzbandriss, der einen Wechsel zum FC Bayern im Sommer 2019 verhinderte. Bei Manchester City spielt er meist als Linksaußen. Eher sporadisch setzte Guardiola ihn als Rechtsaußen oder Wingback ein.
Sané ist einer dieser Spieler, die den Unterschied ausmachen können. Er kann alleine auf Außen durchbrechen und Situationen kreieren, wenn es durch Passspiel alleine mal nicht klappt. Vier Jahre unter Pep Guardiola dürften ihn perfekt auf die bayerische Spielweise vorbereitet haben.
Alter | 24 (11.01.1996) |
Hauptposition | Linksaußen (86% seiner Startelfeinsätze) |
Spiele für aktuellen Verein | 134 |
Tore und Assists | 39+45 |
Non-Penalty-Goals pro 90 min | 0,84 |
Verpasste Spiele wegen Verletzungen seit 2017 | 45 |
Geschätzte Ablöse | 100 Mio. Euro |
Leroy Sané könnte das fehlende Puzzlestück zu sofortigem Erfolg für den Verein sein. Wenn fit, ist er ein unfassbar guter Spieler, der mit seiner Spielweise zum FC Bayern passt und eine freie Planstelle im Kader besetzten könnte.
Gretchenfrage: Wie kommt er aus der Verletzung zurück?
Timo Werner: der Kompromisskandidat
Timo Werner und der FC Bayern: mehr On-off-Anbahnung geht kaum außerhalb von GZSZ. Und so machen aktuell wieder Gerüchte die Runde, wonach er mal wieder definitiv nicht zum FC Bayern wechseln werde. Die Halbwertszeit diesmal? Man wird sehen.
In Leipzig wird Werner fast ausschließlich als einer von zwei Mittelstürmern eingesetzt. Zwar startet er nur sehr sporadisch als nomineller Flügelstürmer, doch weicht er im Leipziger Pressing- und Umschaltspiel immer wieder in freie Räume nach Außen aus. Unter Nagelsmann hat er auch Fortschritte im Ballbesitzfußball gemacht, so dass ein Wechsel nach München keinem Kulturschock mehr gleichkäme.
Alter | 24 (06.03.1996) |
Hauptposition | Mittelstürmer (90% seiner Startelfeinsätze) |
Spiele für aktuellen Verein | 150 |
Tore und Assists | 88+39 |
Non-Penalty-Goals pro 90 min | 0,89 |
Verpasste Spiele wegen Verletzungen seit 2017 | 10 |
Geschätzte Ablöse | 60 Mio. Euro |
Er wäre die Kompromisslösung schlechthin und würde zur bajuwarischen Small-Squad-Philosophie passen. Winger oder Stürmer: Werner kann theoretisch beides. Er ist ein fertiger und doch junger Spieler. Robust. Enorme Scorerwerte. Bonus weil er bereits ein Nachfolger sein könnte, falls Lewandowski doch eines Tages zu altern beginnt.
Gretchenfrage: Wie findet er sich außen und im Ballbesitzfußball zurecht?
Kai Havertz: das Übertalent
Eine Beschreibung ist müßig. Wenn ich heute wetten müsste, welcher deutsche Fußballer die größte Chance auf den Gewinn des Ballon d’Or hat, dann kann die Antwort nur Kai Havertz lauten. Der Junge. Kann. Alles. Betonung auf jung. Kai Havertz wird im Sommer erst 21 Jahre alt und doch dominiert er die Bundesliga bereits seit zwei Jahren.
In Leverkusen wird er in der Regel im zentralen offensiven Mittelfeld eingesetzt. Er kann die Rolle als klassischer Spielmacher oder als fluider Raumschleicher ausfüllen. Robustheit, Übersicht, Torgefahr, Havertz hat alles was es für Offensivspieler braucht, besonders aber zeichnet es ihn aus, dass Fußball bei ihm so einfach aussieht. Diese besondere Gabe, die die Xavis, Zidanes und Kroos dieser Welt vom Rest unterscheidet.
Alter | 20 (11.06.1999) |
Hauptposition | Offensives Mittelfeld (74% seiner Startelfeinsätze) |
Spiele für aktuellen Verein | 139 |
Tore und Assists | 38+30 |
Non-Penalty-Goals pro 90 min | 0,54 |
Verpasste Spiele wegen Verletzungen seit 2017 | 4 |
Geschätzte Ablöse | 100 Mio. Euro |
Kai Havertz ist die Chance auf Greatness. Erkauft werden würde diese Chance jedoch mit einem kurzfristigen Fit-ins-Team-Risiko.
Gretchenfrage: Wie kann Flick ihn neben Müller und Goretzka Müller und Goretzka neben Havertz einbauen?
Bewertung der potentiellen Transfers von Havertz, Sané und Werner
Um die Bewertung greifbar und übersichtlich zu machen, vergebe ich folgend 1-5 Sterne (Fußbälle) in drei Kategorien à zwei Unterkategorien:
- Leistung / fußballerisches Können heute und Potential
- “Fit” zu den aktuellen Planstellen im Kader und zur Spielweise des FC Bayern generell
- Risiken bzw. Kosten
- Für alle gilt: je mehr Bälle, desto besser. Mehr Bälle bei Verletzungen bedeutet also, dass ein Spieler seltener verletzt war.
Aktuell sehe ich alle drei Kandidaten auf einem ähnlichen Niveau, bei Havertz ist natürlich am meisten Luft nach oben. Sané passt nahezu perfekt, Havertz strategisch zwar auch, jedoch ist kurzfristig eigentlich kein Platz im zentralen offensiven Mittelfeld. Timo Werner schneidet durch die Bank weg ordentlich ab, ragt in keiner Kategorie heraus, fällt aber auch nirgends ab. Es hätte schon schlechtere Transfers gegeben.
Need oder BPA? Ich wähle BPA!
Stellt man die Optionen gegenüber, verdichtet sich es sich zur aus der NFL-Draftsprache entlehnten Frage “Need” (Sané) vs. “Best Player Available” (Havertz) oder Kompromiss aus beiden (Werner)?
Es wäre nicht das erste Mal, dass der FC Bayern sich für “BPA” entscheidet. Im Gegenteil, Spielerverpflichtungen basierend auf der Spielerevaluierung relativ losgelöst vom Fit zum Kader ziehen sich wie ein roter Faden durch die Jahrzehnte. Ob trotz Scholl noch Herzog und Sforza geholt wurden, ob Stürmer noch und nöcher gekauft wurden, obwohl an anderer Stelle der Schuh stärker drückte: Wenn der FC Bayern Value sieht, greift er zu.
Was nach Kritik klingt, ist es nicht. Die BPA-Strategie scheint sinnvoll zu sein. Das gilt für die NFL, so zeigen es dort neuere Analysen, das dürfte aber auch für den Fußball gelten.
Warum?
Needs ändern sich, teilweise rasend schnell. Entwicklungssprünge von Talenten (vgl. Phonzie beim FCB), Verletzungen, neue Trainer mit neuen Ideen, alte Trainer mit neuen Ideen u. s. w.
Vor allem Umschulungen von Spielern sind an der Tagesordnung. Alleine beim FC Bayern fallen neben dem genannten Davies sofort auch Lahm (vom Linksverteidiger zum Rechtsverteidiger zum Linksverteidiger zum Rechtsverteidiger zum 6er), Schweinsteiger (vom Winger zum 6er), Kimmich (6er vs. AV) und mit Abstrichen Pavard (IV vs. AV) oder Kroos (vom 10er zum 6er) ein.
Es gibt also viele Gründe, weshalb ein guter Fit schnell obsolet werden kann. Ein guter Spieler hingegen bleibt gut.
Prognose und Fazit
Nach meiner Evaluierung komme ich zum Fazit, dass es Havertz werden wird. Zu groß ist das Upside mit ihm und zu riskant wäre es, ihn nach Liverpool oder Madrid ziehen zu lassen, falls die Möglichkeit besteht, dass er nach München will. So wie ich den FC Bayern einschätze, denkt man dort ähnlich.
Für den Ausblick auf die Saison 2020/21 (sofern diese stattfinden kann), ist es nicht optimal, aber für den Ausblick auf die Jahre 2020 bis 2025 ist es ein Traum. Kurzfristig wird dann wieder einmal Müller nach außen weichen müssen, oder Havertz selbst in seinen Lehrjahren. Vielleicht versucht Flick sich auch wieder an einem 3-5-2 mit Havertz hinter Müller und Lewandowski. Als Trainer ist er zu beneiden, eine Lösung für dieses Problem zu finden.