März 2020, im Zeichen der Coronaviruskrise steht die (Sport-)Welt still. Und wird dies voraussichtlich auch noch eine Zeit lang tun. An Fußballspiele ist aktuell nicht zu denken.
Während die fußballfreie Zeit Spieler, Fans und auch Sportjournalisten vor vielfältige Herausforderungen stellt, kann man die Zeit immerhin für grundlegende Analysen und Beobachtungen nutzen.
Das tut auch Deutschlands führendes Fußballmagazin “kicker” mit einer Analyse zu Thiago, dessen Vertrag beim FC Bayern nur noch etwas mehr als ein Jahr läuft, weshalb dieses Frühjahr wichtige Weichen für seine Zukunft zu stellen sind.
Laut “kicker” hat sich Thiago vom Künstler zum Arbeiter gewandelt
Der “kicker” hat am 21.02.2020 einen Artikel über Thiago veröffentlicht, in dem er einen Wandel bei Thiago beschreibt. Der Trainerwechsel von Kovač zu Flick habe zu einem Umdenken beim Spanier gefühlt. Thiago habe erkannt, dass nicht nur “schnuckelige No-look-Pässe” gefordert seien, sondern auch “die Basiselemente des Fußballs”, und letzteres sind in Fußballdeutschland natürlich in erster Linie “knallharte Zweikämpfe.”
Der “kicker” bedient einmal mehr das ebenso etablierte wie unbegründete Narrativ, mit dem Thiago seit seiner Ankunft in München zu kämpfen hat. Ein Schönspieler, technisch gut, ja, das schon, aber um zu gewinnen, da braucht es (in Deutschland) mehr, da muss man Gras fressen. Das tue der Spanier nicht.
Die Zweikampfquote ist kein Beleg für das formulierte Narrativ
Belege für die Storyline? Kaum. Die Schlussfolgerung im “kicker” stützt sich neben Beobachtungen auf eine anscheinend leicht verbesserte Zweikampfquote. Nun ist es mit der Zweikampfquote so eine Sache.
Schwächen der Zweikampfstatistik
Martin Rafelt, Autor von Spielverlagerung.de sowie Trainer und Analyst bei Hajduk Split, erklärte das Problem der Zweikampfstatistik bereits vor Jahren ausführlich zum Spiel von Borussia Dortmund gegen den FC Augsburg. Im Prinzip geht es darum, dass es im modernen Fußball unklar ist, was ein gewonnener Zweikampf und was ein verlorener überhaupt ist. Und was davon einen Mehrwert für die Mannschaft bringt.
Eine Quote allein sagt wenig
Es sei ergänzt, dass Zweikampfquoten ohne die absoluten Zahlen ohnehin mit Bedacht zu genießen sind. Bei 9 Zweikämpfen in einem Spiel steht zwischen gefeierten 56% und kritisierten 44% Quoten oft nur ein einziger Zweikampf (5/9 oder 4/9 gewonnene Zweikämpfe), der anders in den Rohdaten erfasst wurde.
Vor dem Hintergrund der von Rafelt angesprochen Schwäche der Datenerhebung bzw. Uneindeutigkeit der Interpretation sollte bereits das erste Zweifel wecken.
Es gibt nicht “die” Zweikampfstatistik
Auch verweist Rafelt zurecht darauf, dass es in der primären Datenerhebung durch Sport-Data-Unternehmen wie Opta keine so definierte “Zweikämpfe” gibt. Die in deutschen Sportmedien regelmäßig zitierten Zahlen sind aus verschiedenen Opta-Werten zusammengefasst.
Es ist deshalb unklar, ob in Deutschland bzw. vom “kicker” referenzierte Zweikampfstatistiken überhaupt ausschließlich Defensivaktionen bezeichnen, oder ob Offensivaktionen wie Dribblings in die Statistik einfließen.
Ich habe versucht, die Zweikampfstatistik des “kickers” zu reproduzieren. Am Beispiel des Spiels des FC Bayern gegen RB Leipzig würde das wie folgt aussehen. Laut “kicker” gewann Thiago 73% seiner Zweikämpfe. Diese Zahl ließ sich für mich auf Basis der Opta-Rohdaten nur ermitteln, wenn man folgende Daten addiert: Tacklings (Thiago gewann 4, verlor 1), Kopfballduelle (2 vs. 1), Dribblings (5 vs. 1) und Ballverluste (1). Insgesamt sind das 11 positive Zweikampfaktionen und 4 negative, oder 11/15 = 73%.
Vermischung von Offensiv- und Defensivwerten
Nun ist es grundsätzlich legitim und oft sogar sinnvoll, verschiedene Primärdaten zu komplexeren Werten zusammenzufassen. Und es mag gute Gründe geben, konkret Dribblings zu einer Zweikampfquote zu allokieren. Dann aber sollte man nicht dem logischen Fehlschluss aufsitzen, diese Quote als Zeichen einer defensiven Arbeitsethik zu interpretieren.
Oder käme jemand auf die Idee, Neymar nach einem Spiel mit 7 erfolgreichen Dribblings aus 8 Versuchen, 2 Ballverlusten und 0 Defensivaktionen – nach obiger Rechnung: 70% Zweikampfquote – für seine Defensivarbeit zu loben?
Thiago war schon immer defensiv umtriebig
Die Zweikampfquote, insbesondere falls Offensivaktionen enthalten sind, ist also kein geeigneter Wert, um die defensive Stärke bzw. das defensive Engagement eines Spielers zu bewerten. Was ist es dann?
Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten. Fußball ist zu komplex, um ihn nur mit einfachen Zahlen zu beschreiben. Gerade im modernen Pressingfußball wird das deutlich: Wenn Thomas Müller eine Pressingaktion auslöst, indem er den gegnerischen Torhüter anläuft, so dass dieser einen unkontrollierten Pass spielt, der von Joshua Kimmich abgefangen wird, gebührt dann Müller oder Kimmich der Ballgewinn? Kimmich wird in der bekannten Opta-Statistik mit einem abgefangen Ball (Interception) belohnt, Müllers Pressingaktion findet als solche in advanced stats ihre Berücksichtigung. Aber wie bewerten wir den Einfluss von Serge Gnabry und Kingsley Coman, die andere mögliche Passwege des Torhüters zustellten?
Trotz dieser Einschränkungen zeige ich folgend Thiagos Defensivaktionen im Zeitverlauf: abgefangene Bälle, Tacklings, Fouls, geblockte Schüsse, klärende Aktionen. Das ist keine perfekte Metrik für die Defensivqualität von Thiago, aber zum einen zeigen die Werte seine Bereitschaft für Defensivarbeit, und zum anderen eignen sie sich vor allem für eine Betrachtung der Entwicklung im Karriereverlauf.
Das Ergebnis überrascht, doesn’t it? Pro 90 Minuten hatte Thiago nie weniger als 8 Defensivaktionen. Vielmehr sind die Werte seit 2016 sogar leicht rückläufig.
Was also sagt es über das verbreitete Narrativ über Thiago, den offensiven Schöngeist, der [um einen neuen Top-Vertrag zu bekommen] endlich die Defensivarbeit entdeckt hat? Und was sagt es über die Beobachtungsgabe des “kicker”, wenn man ausgerechnet im März 2020 einen neuen defensiven Thiago entdeckt haben will?
Entwicklung in der Rückrunde
Im “kicker”-Artikel wird dem Trainingslager in Doha eine kathartische Wirkung zugeschrieben. Dort wäre ein neuer Thiago zu sehen gewesen, ein “aggressiver Leader, der knallharte Zweikämpfe führte; ein Kämpfer, der den Ball auch mal zu treten und nicht nur zu streicheln wusste.” Könnte es also sein, dass Thiago in der Rückrunde deutlich engagierter in der Defensive spielt als in der Hinrunde?
Nun, auch das lässt sich durch die Zahlen nicht belegen. Thiagos Defensivaktionen in der Saison 2019/20 sind in Hin- und Rückrunde nahezu identisch.
Tatsächliche Leistungssteigerung in der Offensive
In einer Sache stimme ich dem “kicker” zu: Thiago hat sich in der Rückrunde erheblich gesteigert. Ich selbst schrieb ihm für “Miasanrot” eine “deutliche Leistungssteigerung nach mäßiger Hinrunde” zu.
Allein, die Leistungssteigerung manifestiert sich nicht in der Defensive, sondern in der Offensive. Am plakativsten zeigen das die drei Tore, die Thiago in der Rückrunde erzielt hat, während ihm in der Hinrunde kein einziger Treffer gelang.
Er kommt zudem öfter zum Abschluss (1,3 Schüsse pro 90 Minuten in der Rückrunde vs. 0,7 in der Hinrunde) und dribbelt öfter erfolgreich (3,6 in der Rückrunde vs. 2,9 in der Hinrunde).
Fazit
Thiago hat seit seiner Ankunft in Deutschland das Image, ein Schönspieler zu sein. Nun gibt es an sich schlimmere Vorwürfe als jenen, schönen Fußball zu spielen. Ein Problem wird das nur dadurch, dass es in Deutschland nur zwei Kategorien von Fußballern zu geben scheint: Schönspieler oder Arbeiter. Overath oder Schwarzenbeck. Scholl oder Jeremies. Beides zusammen geht nicht.
Geht nur scheinbar nicht, denn Thiago belegt das Gegenteil. Es ist zu begrüßen, dass der “kicker” dies nach 227 Spielen für den deutschen Rekordmeister auch anzuerkennen beginnt.
Es ist schade, dass der “kicker” diese Erkenntnis in das alte Thiago-Narrativ des kampflosen Schöngeistes – der nun bekehrt sei – verpackt.
2 Antworten auf „Thiago der Zweikämpfer?“
Vielen Dank! Vielleicht könnte man diesen Bericht auch dem #kicker und vor allem Carlo Wild zur Verfügung stellen.
Sehr schön, toller Artikel. Solche Artikel würde ich mir auch in den großen Sportmagazinen wünschen. Würde es auch begrüßen, wenn der kicker hiermit konfrontiert werden würde.