Nach einer turbulenten Schlussphase inklusive Platzverweise für die Gäste pfeift der Schiedsrichter das Spiel in der 96. Minute ab. Drei Tage nach dem überraschenden Pokalaus gegen den Drittligisten Cultural Leonesa kommt Atlético Madrid zu Hause gegen den Tabellenletzten aus Leganés nicht über ein torloses Unentschieden hinaus. Es kriselt in Madrid.
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Diego Simeone grübelt: Wie bekommt er Atléti wieder in die Spur?
Nach den Ergebnissen des Abends beträgt der Rückstand auf den Tabellenführer Real zehn Punkte. Wichtiger aber: Atlético fällt in der Tabelle von La Liga auf Platz 5 zurück, jenen undankbaren Platz, der gerade nicht mehr für die Teilnahme an der Champions League reicht.
Seit 2011/12 beendete Atlético keine Saison mehr schlechter als Platz 3. Zwar sind die Champions-League-Plätze noch in Reichweite – gerade einmal zwei Punkte beträgt der Rückstand auf Platz 3 -, aber der Schein trügt. Denn gleichzeitig beträgt der Vorsprung auf Platz 7 ebenfalls nur zwei Punkte. Und aktuell scheint Atlético dem 7. Platz spielerisch näher zu sein als dem 3. Platz.
Rückblick zur Entwicklung seit der Saison 2011/12
Es gibt ein Atlético vor Simeone und Simeones Atlético. Vor Simeones Amtsantritt war Atlético Madrid kein Spitzenverein. Auf das Double 1996 war der sensationelle Abstieg 2000 gefolgt. Nach dem Wiederaufstieg 2002 schaffte es Atlético bis 2011 nur einmal unter die Top 4 in der spanischen Liga.
In der Saison 2011/12 belegte Atlético zur Winterpause den zehnten Rang und trennte sich von Trainer Gregorio Manzano. Es übernahm: Diego Simeone, der in den Neunzigern bereits als Spieler für die damals erfolgreichen Madrider aktiv war und Leistungsträger der Double-Mannschaft war.
Mit 37 Punkten in 22 Spielen gelang es “el Cholo”, sein Team noch auf Platz 5 zu führen. In den Folgejahren von 2012/13 bis 2018/19 führte er Atlético 7x in Folge unter die Top 3 in La Liga und damit auch in die Champions League. Eine spanische Meisterschaft, ein Pokalsieg und ein Titel in der Europa League krönen die Periode.
Allerdings holte Simeone die beiden größten Erfolge in Spanien bereits kurz nach Antritt bei Atlético. Wettbewerbsübergreifend zeigt sich ein Abwärtstrend.
Die Misere 2020 in Zahlen: Vor allem vorne drückt der Schuh
In der Amtszeit von el Cholo schloss Atlético keine Saison in La Liga mit einem Schnitt von unter 2 Punkten pro Spiel ab. Die Bilanz ist aktuell in akuter Gefahr.
Doch woran liegt der Punkterückgang? Atléticos Defensive vor Weltklassetorhüter Jan Oblak ist stabil. Abgänge hin, Verletzungen her, verteidigen können Simeones Mannschaften. Das wird auch im Torverhältnis sichtbar. Atlético kassiert konstant wenige Gegentore wie sonst wahrscheinlich kein Team in Europa.
Die Abbildung zeigt recht deutlich, wo das Problem liegt: Atlético Madrid schießt keine Tore mehr. 22 Tore in 21 Spielen in der laufenden Saison sprechen eine deutliche Sprache. Starstürmer Antoine Griezmann, der im Vorjahr noch 15 Tore und 8 Vorlagen verbuchte, fehlt an allen Ecken und Enden.
Ursachenforschung: Woran liegt die Offensivschwäche?
Die Griezmann-Millionen wurden vollständig in den mittlerweile 20-jährigen João Félix investiert. Félix zeigt in Ansätzen, warum er einer der teuersten Transfers aller Zeiten ist, mehr als diese Ansätze sind es bisher jedoch nicht. Nur 2 Tore und ein Assist gelangen ihm bisher in La Liga.
Stürmertransfers: Das einst goldene Händchen scheint verschwunden
Félix ist nur der letzte teure Stürmer, der bei Atlético nicht einschlägt. Dabei ist es gar nicht lange her, dass es quasi Atléticos Modell war, Stürmer teuer zu verkaufen und relativ günstig aber qualitativ ebenbürtig zu ersetzen.
Auf Fernando Torres folgte Sergio Agüero, auf Agüero folgte Falcao, folgte Diego Costa (zum ersten), folgten Arda Turan, Mario Mandžukić, Jackson Martínez und Antoine Griezmann. Atlético war nie zurückhaltend dabei, für die neuen Stürmer Geld auszugeben. Die vorgenannten kosteten insgesamt 188,7 Millionen Euro.
Aber Atlético war sensationell gut darin, clever zu investieren. Jeder dieser Stürmer verließ Atlético für eine teils deutlich höhere Ablösesumme als er gekostet hatte. Für die acht Stürmer nahm Atlético 378,4 Millionen Euro ein, ziemlich genau das doppelte der investierten Summe.
Dieses goldene Händchen scheint verflogen. Aktuell gehen unter anderem Diego Costa (zum zweiten), Vitolo, Alvaro Morata, João Félix auf Torejagd. Unterstützt werden sollten sie dabei theoretisch von Thomas Lemar. Für diese “Neuen 5” bezahlte Atlético 354 Millionen Euro Ablöse. Stand heute kann man nicht sagen, dass diese Gelder clever investiert war.
Mittelfeld ohne Torgefahr
Wenn die Stürmer nicht treffen, dann müssen die Mittelfeldspieler um Kapitän Koke und Saúl Níguez für Torgefahr sorgen. Klingt plausibel, passiert aber nicht. Atléticos Mittelfeldspieler, allen voran Saúl, sind gut bis Weltklasse, allein es fehlt an jeglicher Torgefahr.
Spieler | Spielzeit in La Liga | Tore | Assists | T+A p 90 |
Saul | 1800 | 2 | 0 | 0.10 |
Koke | 1435 | 1 | 1 | 0.13 |
Thomas | 1405 | 1 | 0 | 0.06 |
Herrera | 833 | 0 | 1 | 0.11 |
Llorente | 355 | 0 | 0 | 0.00 |
Gesamt | 5828 | 4 | 2 | 0.09 |
Die bisherige Saison kann dabei auch kaum als Ausreißer bezeichnet werden. Saúl, Thomas und Llorente waren nie torgefährlich, Herrera bisher nur in der portugiesischen Liga, und Kokes in Torbeteiligungen gemessen gute Saisons liegen einige Jahre zurück.
Advanced Stats zeigen ein positiveres Bild
Also alles hoffnungslos in Madrid? Nicht ganz. Die Lage sieht deutlich besser aus, wenn wir uns einige advanced Stats anschauen.
Wie oben festgestellt, schießt Atlético zu wenig Tore. Ein Blick auf die Exptected Goals zeigt (Datenerhebung durch Understat seit 2014) ein anderes Bild: Atléti spielt sich in der laufenden Saison ausreichend viele bzw. gute Chancen heraus, um mehr Tore zu erzielen. Erstmals in der Ära Simeone “verliert” man mit den tatsächlichen gegen die erwartbaren Tore.
Ist die aktuelle Ausbeute nun eine überfällige Regression? Oder kann Atlético auf eine Regression hin zum Erwartungswert im verbleibenden Saisonverlauf hoffen?
Auch spielerisch kann man Simeones Elf das Bemühen nicht absprechen. Die Anzahl der Pässe vor dem gegnerischen Tor (“Deep Completions”) ist auf einem Höchstwert. Denn so banal es klingt: Nur wer den Ball in gefährlichen Zonen hält, kann Tore erzielen. Deep Completions weisen historisch eine hohe Korrelation zu herausgespielten Torchancen auf.
Fazit
Es wäre vorschnell Atlético abzuschreiben. Die Defensive steht wie immer bei El Cholo. Auch die Expected Goals machen Hoffnung.
Andererseits ist Fußball ein Ergebnissport. Zu oft bestimmen Ergebnis und nicht Performance die Wahrnehmung. Es wird ein Kraftakt für Atlético, wieder in die Spur zu kommen. Selbst wenn das gelingt: Reicht das, um die Ära Simeone fortzusetzen?